Aushalten lernen: Die unsichtbare Superkraft

14. November 2025

Kennst du das Gefühl, wenn dich eine Situation so richtig nervt und du am liebsten sofort abhauen würdest? Oder wenn Emotionen hochkochen und du einfach nur weg willst – von dir selbst, von allem? Genau darum geht’s beim Aushalten lernen. Es ist diese Fähigkeit, unangenehme Momente nicht sofort wegzudrücken, sondern erstmal dazubleiben und durchzuatmen.

Wir reden hier nicht von sinnlosem Leiden. Aushalten bedeutet nicht, dass du alles über dich ergehen lassen sollst. Der Unterschied zwischen Aushalten und Ertragen ist bedeutsam: Beim Aushalten bleibst du aktiv dabei, nimmst wahr, was gerade passiert, und entscheidest bewusst, wie du damit umgehst.

Psychologen sprechen von Ambiguitätstoleranz – also der Fähigkeit, Widersprüche und Mehrdeutigkeiten auszuhalten. Oder von Selbstregulation, wenn es darum geht, eigene Impulse zu steuern. Am Ende geht es darum, nicht jedem negativen Impuls ungefiltert nachzugeben. Sich selbst aushalten, Emotionen aushalten, Unsicherheit aushalten – all das sind Variationen derselben Grundfertigkeit.

 

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Bedeutung von Aushalten im Alltag

Schau dir mal deinen ganz normalen Tag an. Wie oft musst du eigentlich Dinge aushalten? Dein Chef kommt mit einer Änderung um die Ecke, die dein ganzes Projekt auf den Kopf stellt. Dein Partner hat eine komplett andere Meinung zu einem wichtigen Thema. Die Schlange an der Supermarktkasse bewegt sich langsam. Überall lauern Momente, die deine Geduld testen.

Genau deshalb ist Aushalten können heute wichtiger denn je. Wir leben in einer VUCA-Welt – volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig. Jeden Tag prasseln Informationen auf uns ein, ständig ändert sich irgendetwas, und Eindeutigkeit? Die gibt es nur noch selten.

Für deine psychische Gesundheit ist das Aushalten eine echte Grundvoraussetzung. Wer nicht lernt, mit Frust umzugehen, landet schnell in einer Endlosschleife aus Vermeidung und Überforderung. Persönliche Entwicklung funktioniert nämlich nur, wenn du auch mal durch unbequeme Phasen gehst. Niemand ist jemals gewachsen, indem er immer nur in seiner Komfortzone geblieben ist.

 

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Psychologische Grundlagen des Aushaltens

Emotionsregulation und Coping-Strategien

Wenn du verstehen willst, warum manche Menschen scheinbar mühelos durch Krisen kommen, während andere schon bei kleinen Ärgernissen aus der Bahn geworfen werden, dann schau dir die Emotionsregulation an. Sie entscheidet, wie intensiv du etwas fühlst, wie lange es anhält und wie du darauf reagierst.

Es gibt verschiedene Coping-Strategien – also Bewältigungsstrategien. Manche Menschen lenken sich ab, andere suchen aktiv nach Lösungen, wieder andere reden mit Freunden. Die Kunst liegt darin, flexibel zu sein und je nach Situation die passende Strategie zu wählen.

Ambiguitätstoleranz: Widersprüche aushalten

Stell dir vor, du sollst zwei Dinge gleichzeitig glauben, die sich widersprechen. Unangenehm, oder? Manche Menschen reagieren darauf mit Stress, andere bleiben gelassener. Ambiguitätstoleranz ermöglicht, Widersprüche und Mehrdeutigkeiten zu akzeptieren und konstruktiv zu verarbeiten. In einer Welt voller Grauzonen ist das eine zentrale Kompetenz.

Frustrationstoleranz und Stressresistenz

Frustrationstoleranz beschreibt, wie gut du damit umgehen kannst, wenn Dinge nicht nach Vorstellung laufen. Sie fungiert als Puffer in schwierigen Situationen. Auch Stressresistenz – also die Fähigkeit, gelassen zu bleiben, wenn der Druck steigt – ist trainierbar.

Resilienz entwickeln

Resilienz ist psychische Widerstandskraft: Durch Herausforderungen zu gehen und wieder aufzustehen. Die Forschung betont, dass Resilienz entwickelbar ist, zum Beispiel durch das Meistern von schwierigen Situationen und das Sammeln von entsprechenden Erfolgserlebnissen.

Das Default Mode Network und Alleinsein

Unser Gehirn verfügt über das Default Mode Network (DMN). Es wird bei Nichtstun aktiv – etwa beim Tagträumen oder Grübeln. In solchen Phasen findet wichtige Selbstreflexion statt.

Erlernte Hilflosigkeit vermeiden

Das Phänomen erlernte Hilflosigkeit beschreibt, dass Menschen nach wiederholter Erfahrung von Ohnmacht die Initiative verlieren. Das Gegenteil ist Selbstwirksamkeit: Das Bewusstsein, durch eigenes Handeln etwas bewirken zu können. Selbstwirksamkeit wird gestärkt, indem man schwierige Situationen aktiv durchsteht.

 

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Sich selbst und negative Gefühle aushalten lernen

Mal ehrlich: Wann hast du das letzte Mal einfach nur dagesessen, ohne Handy, ohne Fernseher, ohne Podcast im Ohr? Für viele ist das schwer. Sich selbst aushalten fällt oft nicht leicht.

Wenn wir mit uns allein sind, kommen Gedanken und Gefühle auf, denen wir lieber ausweichen würden. Viele ziehen es vor, sich abzulenken.

Was passiert bei verdrängten Gefühlen?

Verdrängte Gefühle verschwinden nicht einfach, sondern treten oft an anderer Stelle oder als psychosomatische Beschwerden auf.

Manchmal landen sie im Körper: Verspannungen, Kopfschmerzen, Magenschmerzen sind klassische Beispiele für Psychosomatik. Auch Verhaltensweisen wie übermäßiges Arbeiten, Konsum oder Alkohol dienen gelegentlich der Vermeidung emotionaler Auseinandersetzung.

Der Nutzen von Akzeptanz

Gefühle anzunehmen heißt nicht, sie zu mögen. Akzeptanz bedeutet, Gedanken und Emotionen zunächst zuzulassen, um sie verarbeiten zu können. Radikale Akzeptanz bildet einen wichtigen Bestandteil vieler Psychotherapien und kann Veränderungsprozesse auslösen. Negativen Emotionen Raum zu geben, ist ein zentraler Bestandteil emotionaler Verarbeitung.

 

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Umgang mit Unsicherheit, Widersprüchen und Ambiguität

Menschen streben nach Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Fehlt diese, empfinden viele Unsicherheit als belastend

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Schmerz vs. Ungewissheit

Studien zeigen, dass manche Menschen kalkulierbaren Schmerz Ungewissheit vorziehen.

Oft werden unbefriedigende Situationen aus Angst vor dem Ungewissen beibehalten.

Ambiguitätstoleranz im Alltag steigern

Ambiguitätstoleranz ist trainierbar. Es hilft, kleine Unsicherheiten bewusst auszuhalten und Entscheidungen notfalls mit unvollständigen Informationen zu treffen. So wird das Gehirn daran gewöhnt, Unsicherheit nicht automatisch als Gefahr einzustufen.

 

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Aushalten lernen und kognitive Anstrengung

Das Gehirn versucht kognitive Anstrengung zu vermeiden (Prinzip der kognitiven Ökonomie), um Energie zu sparen. Manchmal steht dieses Muster einer gesunden Entwicklung im Wege.

Anstrengung neu bewerten

Anstrengung ist nicht grundsätzlich negativ. Das Belohnungssystem im Gehirn wird auch durch das Bewältigen von Herausforderungen aktiviert. Selbst erarbeitete Erfolge stärken nachhaltiger als geschenkte.

Von Überforderung zu Selbstwirksamkeit

Wachstum passiert in der sogenannten Zone der proximalen Entwicklung – also in einem Bereich, in dem Aufgaben herausfordernd, aber nicht überfordernd sind. Erfolgserlebnisse steigern nachweislich die Selbstwirksamkeitserwartung.

 

Praktische Techniken und Übungen zum Aushalten

Atem- und Entspannungstechniken

Langsames, bewusstes Atmen aktiviert den Parasympathikus und wirkt Stress entgegen. Die Box-Breathing-Technik, bei der Ein- und Ausatmen sowie Atempausen jeweils vier Sekunden dauern, gilt als wirksam und ist im Stressmanagement anerkannt.

Achtsamkeit und Gegenwartsfokus

Achtsamkeit bedeutet, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Viele psychologische Ansätze empfehlen, mit allen Sinnen die unmittelbare Gegenwart wahrzunehmen, um belastende Gedankenmuster zu unterbrechen.

Journaling: Gedanken aufschreiben

Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten, kann helfen, emotionale Klarheit zu gewinnen. Journaling ist in Therapien und im Alltag ein anerkanntes Werkzeug zur Selbstreflexion.

Gefühle benennen und akzeptieren

Das bewusste Benennen von Gefühlen reduziert wissenschaftlich nachweisbar deren Intensität. Akzeptanz statt Bekämpfung fördert die emotionale Verarbeitung.

Kognitive Umstrukturierung

Die Technik der kognitiven Umstrukturierung ist ein zentrales Element der kognitiven Verhaltenstherapie. Sie besteht darin, automatische Gedanken zu hinterfragen und neue Bewertungen zu erarbeiten.

Kleine Experimente wagen

Bewusst kleine, ungewohnte Situationen auszuhalten, baut Toleranz gegenüber Unbehagen auf. Diese „Mikroübungen“ stärken die Aushaltekompetenz schrittweise.

Soziale Unterstützung suchen

Soziale Unterstützung ist ein wissenschaftlich belegter Puffer gegen Stress. Das Gespräch mit vertrauten Menschen kann emotionale Belastung deutlich mindern.

Selbstmitgefühl praktizieren

Selbstmitgefühl ist die Fähigkeit, sich selbst in schwierigen Situationen mit Freundlichkeit statt Kritik zu begegnen. Studien zeigen, dass diese Haltung die Resilienz fördert.

Grenzen erkennen und Selbstschutz

Aushalten lernen bedeutet nicht, schädigende Situationen zu ertragen. Eigene Grenzen zu erkennen und im Notfall zu gehen, ist wichtig für das psychische und körperliche Wohlbefinden.

 

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Gefahr der Überforderung: Wann ist Nicht-Aushalten sinnvoll?

Nicht alles sollte man aushalten. Toxische Beziehungen, Mobbing und andere schädliche Situationen sind klare Fälle, in denen ein Verlassen sinnvoller ist als weiteres Ausharren.

Warnzeichen für Überforderung

Warnzeichen sind: chronische Erschöpfung, Schlafstörungen, körperliche Beschwerden ohne erkennbare medizinische Ursache, Rückzug, emotionale Abstumpfung und Reizbarkeit. Das Überschreiten dieser Grenze verlangt nach Veränderung.

Erlernte Hilflosigkeit vermeiden

Wer dauerhaft in ausweglosen Situationen verharrt, entwickelt leicht erlernte Hilflosigkeit. Entscheidend ist, zwischen handhabbaren Herausforderungen und tatsächlich schädigenden Konstellationen zu unterscheiden

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Wann professionelle Hilfe nötig ist

Bei Anzeichen schwerwiegender psychischer Belastung oder Erkrankung ist professionelle Hilfe aus Therapie oder Beratung indiziert. Die Inanspruchnahme solcher Hilfe ist sinnvoll und kein Zeichen von Schwäche.

 

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Der Weg zur inneren Stärke: Resilienz entwickeln

Wer regelmäßig durch herausfordernde Momente geht und lernt, diese aktiv zu verarbeiten, entwickelt Resilienz – die Fähigkeit, psychisch widerstandsfähig zu bleiben.

Ein dickes Fell entwickeln

Resilienz bedeutet emotionale Stabilität: Herausforderungen werfen einen nicht mehr so leicht aus der Bahn. Diese innere Stärke wächst mit jeder bewältigten Schwierigkeit.

Langfristige Vorteile

Die langfristigen Vorteile von Frustrationstoleranz und Resilienz: stabilere Beziehungen, bessere Entscheidungsfähigkeit und mehr Gelassenheit im Alltag.

Vor allem aber: Du lebst unabhängiger, weil du weißt, dass du mit dem klarkommst, was das Leben dir vor die Füße wirft.

 

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FAQ: Häufig gestellte Fragen rund ums Aushalten lernen

Ist Aushalten eine Persönlichkeitseigenschaft oder kann man das lernen?

Beides! Forschung zu Ambiguitätstoleranz und Frustrationstoleranz zeigt: Es gibt genetische und durch Sozialisation geprägte Unterschiede. Doch diese Fähigkeiten lassen sich auch gezielt trainieren.

Was tue ich, wenn das Aushalten zu Überforderung führt?

Wenn du dich überfordert fühlst, reduziere die Belastung. Professionelle oder soziale Unterstützung kann helfen, Auszeiten und Prioritäten zu setzen.

Wie kann ich andere beim Aushalten lernen unterstützen?

Als Eltern: Kindern altersgerechte Herausforderungen zutrauen und sie unterstützend begleiten. Als Partner: unangenehme Gefühle gemeinsam aushalten, nicht vorschnell lösen. Als Führungskraft: Herausforderungen klar benennen, aber auch Rückhalt bieten.

Der Schlüssel ist: eine sichere Basis bieten, von der aus die Person Schwierigkeiten bewältigen kann.

Wie viel sollte man wirklich aushalten? Wo sind die Grenzen?

Diese Grenze ist individuell. Faustregel: Situatives Aushalten ist sinnvoll, solange es Entwicklung ermöglicht und nicht schadet. Dauert eine Belastung an und drohen gesundheitliche Folgen, ist ein Ausstieg angebracht.

 

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Warum jeder das Aushalten lernen kann und sollte

Beim Aushalten lernen geht es um Freiheit im Umgang mit sich und der Umwelt. Nicht jede Herausforderung muss perfekt bestanden werden: Auch Rückschritte und das Zulassen von Hilflosigkeit sind Teil des Prozesses.

Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess. Die Fähigkeit, sich selbst, eigene Gefühle und Unsicherheiten wahrzunehmen und zu verarbeiten, ist eine der wertvollsten Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben.


Dennis Streichert

Seit mehr als 14 Jahren ist Dennis in die wundervolle Welt der Psychologie & Persönlichkeitsentwicklung verliebt. Er hat an der DHBW Mannheim studiert und ist seitdem als Berater und Kundenbetreuer tätig – mit viel Kontakt zu Menschen. Dabei ist er sehr introvertiert. Durch die Erfahrungen im Konzernumfeld hilft Dennis heute anderen Introvertierten, im Job sichtbar zu werden, die eigenen Potenziale voll auszuschöpfen und ein Leben mit Sinn und Fülle zu führen. Um diese Vision zu verwirklichen, gibt er zahlreiche hochwertige Bücher heraus und veröffentlicht wertvolle Inhalte auf seinem Blog und YouTube-Kanal. Bereits tausende Menschen durfte er mit seinen Artikeln und Büchern inspirieren und bereichern.

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